Psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz – Ein Interview mit Nora Zallmann.

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Vermeidung ist keine Lösung.

Psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz: Ein systemischer Blick auf Prävention und Hilfe

Nora Zallmann ist Psychologin und Senior Consultant bei der Allfoye Managementberatung. Sie verfügt über zwei Ausbildungen als systemische Beraterin/Coach und hat sich in selbstständiger Tätigkeit, in verschiedenen Projekten sowie im Start-up-Kontext auf ganzheitliche Angebote zur Förderung der mentalen Gesundheit fokussiert. Im Interview mit der Themenschmiede spricht sie über die Bedeutung enorm zunehmender psychischer Erkrankungen – Burnout, Depression und Angststörungen – für die Unternehmen und zeigt Lösungswege auf.

Jan 30, 2024 10:19:23 AM

Frau Zallmann, Sie beschäftigen sich seit Jahren als Beraterin und Coach mit Veränderungskompetenz und wie man sie stärken kann – Stichwort Resilienz.
Heute aber geht es um das Phänomen, dass deutlich vermehrt Menschen an psychischen Krankheiten leiden und damit einhergehend die Fehlzeiten am Arbeitsplatz massiv angestiegen sind. Was ist da los?

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehört die Depression zu den häufigsten psychischen Erkrankungen weltweit. Jeder fünfte Erwachsene ist in seinem Leben von einer depressiven Episode betroffen. Neben der persönlichen Belastung der Menschen und ihrer Angehörigen hat das selbstverständlich auch spürbare Auswirkungen auf die Gesellschaft und auf unsere Wirtschaft.

Das sehen wir in Form von immensen Lohnkosten und damit einem enormen Verlust an Arbeitsproduktivität. Einem Bericht der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und -medizin vom Dezember 2022 zufolge werden die Kosten für Produktionsausfälle aufgrund psychischer Erkrankungen auf 15,8 Milliarden Euro geschätzt. Das zeigt mir: Es gibt erheblichen Handlungs- und Präventionsbedarf.

Was sind aus Ihrer Sicht die Indikatoren, warum es zu solch alarmierendem Anstieg an Arbeitsausfällen aufgrund von Depression, chronischer Erschöpfung und Ängsten kommen konnte? 
Laut DAK-Psychreport erreichten psychische Erkrankungen letztes Jahr einen Höchststand mit 301 Fehltagen je 100 Versicherte; sie lagen damit um 48 Prozent über dem Niveau von vor zehn Jahren.

Sicherlich ist es ein Zusammenspiel ganz vieler Themen: Erst einmal gibt es die ganz großen Herausforderungen wie die Coronapandemie, die Konjunkturkrise und den Fachkräftemangel – all das sind Themen, die sich generell auf die Menschen, die Atmosphäre und die Kultur in den Unternehmen auswirken. Zeitgleich kommt es – glücklicherweise – zu transparenteren Angaben der Krankheit in den Krankmeldungen, wodurch die Zahlen ebenso steigen.

Darüber hinaus gilt es, sämtliche Rahmenbedingungen des Arbeitsalltags – völlig egal, in welcher Rolle jemand tätig ist – zu berücksichtigen. Das fängt mit den Arbeitszeiten an. Bin ich flexibel, kann ich sie mitgestalten? Kommen mir Arbeitgeber:innen beispielsweise in der Kinderbetreuung entgegen? 

Auch die Arbeitsplatzumgebung ist wichtig, also der Raum, in dem ich arbeite, die Ausstattung, die Lärmbelästigung, das Licht. Sind sie nicht gut, können sie das Stressniveau steigern, was die meisten in erster Linie gar nicht bewusst als große Beeinträchtigung wahrnehmen.

Es ist die Summe vieler Kleinigkeiten, die Mitarbeitende und Führungskräfte belasten können. Und natürlich bringe ich noch als Person individuelle psychische wie physische Veranlagungen mit, die mich als Mensch ausmachen, und wie ich meine Arbeit gestalte: Beispielsweise kann man über einen gewissen Zeitraum emotional erschöpfen, weil man entweder das Gefühl hat, den Arbeitsbedingungen ausgeliefert zu sein, oder weil man so sehr für eine Sache arbeiten will, ohne einen angemessenen Ausgleich für sich zu schaffen.

Ebenso entscheidend ist, mit wem ich zusammenarbeite. Stichwort Führung: Fehltage und Absentismus können ja auch aus einer Unzufriedenheit oder Demotivation heraus entstehen. Werde ich nicht ausreichend gefördert, gefordert und geführt, sind das ebenso Gründe, weshalb ich der Arbeit fernbleibe oder nicht mehr die volle Leistung erbringe – was wiederum zu höheren Kosten fürs Unternehmen führt.

Einverstanden. Aber lassen Sie uns wirklich beim brennenden Thema depressiver Episoden, Burnout oder Erschöpfung und Angststörungen bleiben – als Belastung für Unternehmen, Teams und natürlich für die Mitarbeitenden. Sind sich die Unternehmen dieser Problemstellung bewusst? Wie erleben Sie das als Beraterin?

Ich glaube, das ist noch immer ein unterschätztes Thema in den Unternehmen. Das hängt nach wie vor sowohl mit einer Stigmatisierung von Depression als auch mit einer Überforderung im Umgang mit psychischen Erkrankungen zusammen. Ich bin sogar fest davon überzeugt, dass wir so wenig Fortschritt in diese Richtung sehen, weil die Räume nicht geschaffen werden, um authentisch und wirklich transparent darüber sprechen zu können.

Die meisten Führungskräfte fühlen sich dem nicht gewachsen. In der Folge baut sich eine Barriere auf, und man reagiert mit Schweigen. Der Wille ist teilweise schon vorhanden, aber die Kompetenz häufig nicht – woher auch? Selbst wenn die Tabuisierung des Themas in manchen Unternehmenskulturen aufweicht, fehlt es an Wissen, wie man überhaupt das Gespräch dazu eröffnen kann.

Stark von KPIs getriebene Unternehmen vernachlässigen manchmal die vermeintlich weicheren Themen. Das ist ein unfassbar verkannter Kostenfaktor. Die Fehlzeiten sind lediglich die Symptome, die die eigentliche ‚Erkrankung‘ des Unternehmens zum Vorschein bringen. Viele AU-Tage bedeuten wohlmöglich, dass an ganz anderen Stellen der Organisation etwas fehlt oder etwas zu viel ist. Burnout wird häufig in Richtung der Einzelperson interpretiert, und die Lösung wird darin gesucht, sie resilienter zu fördern. 

Es fehlt der systemische Blick auf die Wirkfaktoren innerhalb eines Unternehmens, die dazu beitragen, warum ich mich so verausgabe, dass ich irgendwann nicht mehr kann. Kurzum: Diese Zahlen bedeuten: „Hört hin. Schaut hin. Fragt Euch: Warum?“

Bei der Allfoye versuchen wir mit Insight-getriebener Organisationsentwicklung als Einfallstor, solche „weichen“ Themen überhaupt erst einmal messbar zu machen sowie in Einzelgesprächen genügend Vertrauen aufzubauen, um sie besprechbar zu gestalten. Dazu gehört auch, diese Themen gemeinsam mit der Geschäftsführung mit den „harten“ Faktoren wie Strukturen, Systeme und Prozesse zu vereinbaren.

 

Psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz – Ein Interview mit Nora Zallmann.

„Die meisten Führungskräfte fühlen sich dem nicht gewachsen. In der Folge baut sich eine Barriere auf, und man reagiert mit Schweigen. Der Wille ist teilweise schon vorhanden, aber die Kompetenz häufig nicht – woher auch? Selbst wenn die Tabuisierung des Themas in manchen Unternehmenskulturen aufweicht, fehlt es an Wissen, wie man überhaupt das Gespräch dazu eröffnen kann.“, so Nora Zallmann.

Fakt ist, dass nicht jede psychische Belastung – etwa Schlafstörungen, Pflege Angehöriger, Angst vor Arbeitsplatzverlust, Geschwindigkeit, Mobbing, eine Suchtthematik oder Stressempfinden – zwangsläufig in eine psychische Krankheit mündet.
Auf der anderen Seite bestätigt das 6. Deutschlandbarometer Depression, dass Menschen mit einer depressiven Episode durchschnittlich 20 Monate warten, bis sie sich professionelle Hilfe – sei es beim Hausarzt, Facharzt oder einer Beratungsstelle – suchen.
Zudem beträgt die durchschnittliche Wartezeit auf einen Therapieplatz ein halbes Jahr. Welchen Beitrag können Unternehmen hier präventiv respektive überbrückend leisten?

Ich plädiere für verschiedene Angebote – interne und externe, die ins Unternehmen hereingeholt werden. Es muss eine ganz klare Anlaufstelle geben, die jeder kennt.

Ein Team, angedockt ans Personalwesen, an das man sich wenden kann, wenn es akut ist oder wird, sei es als Überbrückung oder als eine Art Sprechstunde oder Hotline, die dann dafür sorgt, dass mir geholfen wird. Dabei kann es sich auch um einen externen Dienstleister handeln. Für unser Unternehmen ist es „mein EAP“, das sogenannte Employee Assistance Program.

Zusätzlich halte ich es für elementar, Wissen bereitzustellen damit sich sowohl Führungskräfte als auch alle anderen Mitarbeitenden informieren können. Dazu kann man eine interne Plattform aufbauen oder eine App installieren, die mir bewusst Informationen zu diesen Themen liefert.

Das Stichwort lautet Psychoedukation: mit Erklärungen zu Stress und Depression, vielleicht mit Einstiegsvideos, Hintergründen, Fragebögen, Anlaufstellen sowie generell mit Gesundheitsthemen, in die ich mich einlesen kann. Das Angebot sollte niederschwellig sein, damit ich mich auch abends hinklicken kann, ohne dass es jemand sieht und ich mich an der Stelle öffnen muss. Außerdem hat sich mittlerweile ein breiter Markt digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA) entwickelt, auf die ich zugreifen kann. Aber ganz klar ist, es braucht eine Anlaufstelle, von der ich später abspringen kann und weiß: Hier nimmt mich jemand schon einmal an die Hand.

Stichwort Prävention: Spitz ausgedrückt gibt es Präventionsangebote, die allein auf eine höhere Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden abzielen, statt sie ganzheitlich zu adressieren mit ihren Potenzialen und Prädispositionen, mit ihren Bedürfnissen und Wünschen...

Das meinte ich vorhin mit Psychoedukation, die auch den Körper und das Mindset miteinschließt. Wenn ich nun die Person betrachte: Bewegt sie sich ausreichend? Wie steht´s mit gesunder Ernährung, was biete ich in der Kantine an? Veranstalte ich als Unternehmen beispielsweise Formate wie „Health Weeks“? Gibt es aktive Pausen? Habe ich Ruheräume? Das sind Kontextfaktoren, die ebenfalls zu betrachten sind.

Lassen Sie mich meine Frage noch einmal anders formulieren: Was darf Prävention nicht, oder was sollte Prävention angesichts alarmierender Fehlzeiten unbedingt beinhalten?

Ein Grundsatz, den ich mir auch immer wieder vor Augen halte, ist: Das Wegbleiben von schlecht ist nicht gleich gut. Wenn die Bedingungen also „nicht schlecht“ im Sinne von gesundheits- oder stressgefährdend sind, bedeutet es nicht automatisch, dass sie gesundheitsförderlich sind. Wenn wir Prävention als etwas betrachten, das unter der Nulllinie wirkt, sprich – es darum geht, etwas auf null zu ziehen und damit etwas lediglich besser aushalten zu können – dann ist das für mich eher Schadensbegrenzung.

Prävention, die ich meine, geht einen Schritt weiter. Sie möchte die Potenziale der Menschen für die Menschen selbst und fürs Unternehmen positiv ausschöpfen. Erst damit komme ich von null auf Plus und kann von fördernden Bedingungen sprechen.

Ob Unternehmen das wollen und auch in der Praxis umsetzen können, da schwingen ganz stark die Glaubenssätze und die Kultur mit. Wir merken das immer wieder bei unseren Führungskräftecoachings. Meister im produzierenden Gewerbe oder Logistiker gucken uns teilweise mit großen Augen an, wenn wir mit unseren Angeboten kommen – sei es mit dem Hogan Assessment, mit den Reiss-Profilen oder einem anderen Tool der Persönlichkeitsentwicklung – und sagen: „Wie soll ich das in meinem Alltag anwenden? Es ist doch gar nicht Teil unserer Arbeitswelt und Realität, über Motive und Bedürfnisse von Menschen zu sprechen und würde von unseren Mitarbeiter:innen kaum angenommen werden.“ Auch gewaltfreie Kommunikation ist für sie oft fremdes, ganz neues Terrain.

Ich bin aber davon überzeugt, dass diese Inhalte für jeden Menschen relevant sind, man muss sie nur empfängergerecht und sensibel aufbereiten. Dafür gilt es, sich die Glaubenssätze der Unternehmen und einzelner Abteilungen genauer anzuschauen und tiefer im Unternehmen anzusetzen.

Das heißt – mit anderen Worten – Sie verfolgen immer einen systemischen Blick auf Unternehmen und einen ganzheitlichen Ansatz bei Prävention.

Genau, ich setze stark auf die Kulturebene eines Unternehmens, wobei die Kultur das Ergebnis der Menschen ist, die in der Kultur arbeiten. Die Unternehmensspitze legt das schon vor, aber für mich sind es alle Personen, die eine Vorbildfunktion einnehmen – Führungskräfte, aber ebenso meine Kolleg:innen in Teams, die mich auch prägen und unter denen ich mir eigene Vorbilder suche.

Noch eine letzte, direkte Frage: Haben Sie es bereits erlebt, dass ein Unternehmen mit dem Thema Depression oder psychische Erkrankungen auf Sie zugekommen ist, oder begegnet es Ihnen hin und wieder erst in der Beratung?

Ich habe es noch nicht erlebt, dass das Thema das Hauptanliegen hinter einem konkreten Beratungsauftrag war. In meinem Tätigkeitsbereich der Potenzialanalyse mit Führungskräften bin ich persönlich aber ganz dicht an den Menschen und habe den Raum, eins zu eins mit einer Person zu sprechen nach dem Motto: ‚Hand aufs Herz, deine Persönlichkeitsstruktur sieht so aus, dein Unternehmensumfeld wiederum so, geht es dir damit gut?‘ Wenn wir die Möglichkeit dazu haben, dann thematisieren wir auch psychische Belastungen und mehr.

Die Erfahrung ist eine sehr, sehr positive – sowohl für uns Berater:innen als auch für das Unternehmen. Denn dann merken sie: „Hey – damit können wir arbeiten.“ Das ist ja nicht zuletzt auch unsere Intention, durch datengestützte Tools sensible Themen besprechbar zu machen. Wenn Erschöpfung oder depressive Episoden überhaupt als strukturelles Problem identifiziert werden, dann ist das ja ein Riesenvorteil.

Und so denke ich mir das gleichermaßen bei den Führungskräften, die Einzelgespräche mit ihren Mitarbeitenden führen. Dass sie genau hinhören und dann ebenso genau wissen: Was mache ich damit? An welche Personen kann ich die belastete Person verweisen? Wo hört mein Kompetenzbereich auf, und an wen kann sich die Person wenden, um weitere Unterstützung zu erhalten?

Und um nochmal auf die Kosten zurückzukommen: In mentale Gesundheit, in Kommunikation und Kultur zu investieren, lohnt sich. Der Return on Invest stellt sich definitiv ein, wenn ich gesunde Mitarbeitende habe.

 

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Bettina Dornberg von den Identitätsstiftern.

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