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Innovative Geschäftsmodellentwicklung

Geschrieben von Sven Göth | Jan 11, 2023 12:48:19 PM

Herr Göth, warum fällt es vielen mittelständischen Unternehmen so schwer, strategisch in die Zukunft zu blicken? 

Ihr Fokus liegt in der Regel darauf, sich inkrementell weiterzuentwickeln. Darin sind mittelständische Unternehmen hervorragend: Sie optimieren ihre Prozesse, ihre KPIs und Finanzen und reagieren auf die jeweiligen Herausforderungen ihrer Märkte. 

Warum sie Wirkfaktoren, die in einem Zeitraum von fünf bis zehn Jahren für ihr Geschäft relevant sein könnten, häufig übersehen? Ich glaube, dafür fehlen ihnen unter anderem die Kapazitäten. Führungskräfte und Mitarbeitende sind mit dem operativen Geschäft und den kurz- bis mittelfristigen Zielen ausgelastet. Dabei wäre es so wichtig, die langfristige Perspektive ebenso im Blick zu behalten und in Wahrscheinlichkeiten, Auswirkungen, Szenarien und Periodisierungen immer wieder neu durchzuspielen. Schließlich leben wir in einer Welt, die unfassbar unplausibel geworden ist.  

Wenn es um das Thema Expansion geht, stärken viele Unternehmen eher ihr Kerngeschäft und übernehmen Wettbewerber. Mit dessen Geschäftsmodellen kennen sie sich aus, das können sie rauf und runter rechnen. Das lukrative Start-up hingegen, welches für den halben Preis zu haben ist, sogar Wachstumsraten von 300 Prozent aufweist und neue Marktzugänge bietet – das lassen sie meistens links liegen. 

Der Zukunftsforscher Jamais Cascio beschreibt die Welt als brizzle, anxious, non-linear und incomprehensible (BANI), also brüchig, angstgetrieben, nicht-linear und unverständlich. Wie können Unternehmen in dieser verwirrenden Zeit trotzdem einen klaren Kurs abstecken? 

Die Unternehmen sollten versuchen, eine belastbare Vorstellung darüber zu gewinnen, welche wesentlichen Treiber ihr Geschäftsmodell, das Customer Engagement und die Ways of Work beeinflussen werden. Dabei geht es nicht darum, jeden Megatrend zu analysieren, sondern um die großen Linien. So werden sich die Kundenbeziehungen allein durch den demografischen Wandel und die Bedeutung von Social Media weiter verändern.  

Die Zusammenarbeit in den Unternehmen wird künftig verstärkt von dezentraler Kollaboration, neuen Führungsstilen und vom Personal- und Fachkräftemangel beeinflusst. Kurzum, Unternehmen sollten ihr Geschäft in vier zentralen Handlungsfeldern hinterfragen: Digitalisierung, demografischer Wandel, Nachhaltigkeit und Geopolitik.  

Täuscht der Eindruck, oder kommt der Aspekt Geopolitik dabei noch deutlich zu kurz? 

Das Thema verdient tatsächlich mehr Augenmerk. Geopolitik hat in diesem Jahrzehnt enorm an Bedeutung gewonnen. Man denke an den Brexit im Januar 2020 oder an die Probleme in den Lieferketten als Folge der Coronapandemie. Der russische Angriff auf die Ukraine hat neben unsäglichem Leid eine Energie- und Wirtschaftskrise heraufbeschworen. Die meisten westlichen Unternehmen haben sich aus dem russischen Markt zurückgezogen. Gleichzeitig spitzt sich der Kampf um die globale Vorherrschaft zwischen den USA und China zu.  

Der Wettbewerb der Systeme und Werte ist in vollem Gange und hat gravierende Auswirkungen auf Marktzugänge und Handelsabkommen. Sich mit diesen Entwicklungen auseinanderzusetzen und die Chancen und Risiken für das eigene Geschäft zu bewerten, ist unabdingbar. 

Nun haben Unternehmen heutzutage Zugang zu Informationen in Hülle und Fülle. Wie lassen sie sich bei der Geschäftsmodellentwicklung strategisch verdichten? 

Bei FUTURISER haben wir dafür einen prototypischen Innovationsprozess entwickelt, der mittelständischen Unternehmen als Vorbild dienen mag. Unser Ausgangspunkt ist das Framing, bei dem wir den Veränderungsdruck und die wesentlichen Treiber in einem Markt verstehen lernen. In den Unternehmen unserer Kunden führen wir dazu strukturierte Interviews und veranstalten Workshops. Parallel dazu tragen wir externe Informationen zusammen, etwa durch Recherchen oder Gespräche in unserem Expertennetzwerk. Auf dieser Basis können wir mit Techniken wie dem Vision Mapping einen nachvollziehbaren Entwicklungspfad in die nächsten zehn, zwölf Jahre zeichnen. 

 

Abbildung 1: Vision Map - Schema einer Vision Map mit einem Zeithorizont von zehn Jahren und mehr.  

Quelle: FUTURISER GmbH  

Grafikerstellung: Allfoye Managementberatung GmbH mit Unterstützung durch Veit Quandt. 

Wie wird aus dem gesammelten Wissen ein Geschäftsmodell? 

Wir bevorzugen einen forschungsbasierten, assoziativen Ansatz der Modellierung. Assoziativ bedeutet für uns, das Wissen, die Erfahrungen und Erwartungen im Unternehmen, in unserem Team und unserem Netzwerk zu einem Gesamtbild zusammenzuführen und daraus Entwürfe für neue Geschäftsmodelle abzuleiten. Weitere Recherchen und Experteninterviews in unserem Ökosystem aus Unternehmen, Zukunftsforschern, Technologieexperten und Beratungen folgen. 

Außerdem nutzen wir KI-basierte Trendradare, die unser Partner Itonics aus Nürnberg erstellt. Damit lassen sich Technologietrends und Marktpotenziale softwaregestützt identifizieren und im Kontext des jeweilen Unternehmens auswerten. Es gibt so viele interessante Innovationen, Verbindungen und Entwicklungen da draußen. Die meisten Unternehmen können sie allein nicht überwachen und die leisen Signale, die eine Disruption ankündigen, nicht wahrnehmen.  

Die Orchestrierung der digitalen Initiativen und Projekte im Unternehmen. Allzu oft stoßen wir auf Denksilos, die nicht miteinander verbunden sind. Digitalisierung ist als koordiniertes Programm zu verstehen, dessen Bestandteile ineinandergreifen und aufeinander aufbauen. Ohne Transparenz, Übersicht und Prioritäten geht das nicht.

Es gilt, genau hinzuschauen: Welche Projekte sind bereits angestoßen worden, was ist angedacht? Und welche dieser Ideen für neue Services, Produkte oder Prozessoptimierungen haben den stärksten Hebel für das Geschäft? Solche Fragen lassen sich nicht schnell in einem Workshop klären, sondern erfordern weitergehende Analysen.

 

Abbildung 2: Daten- und KI-basierte Radare lassen Technologietrends, Treiber der Disruption und Marktpotenziale sichtbar werden. Die Software strukturiert und visualisiert komplexe Informationen aus einer Vielzahl von Quellen und ermöglicht individuelle Auswertungen.

Quelle: FUTURISER GmbH  

Grafikerstellung: Allfoye Managementberatung GmbH mit Unterstützung durch Veit Quandt. 

Wenn Unternehmen ohnehin zu wenig Kapazitäten haben, um die Zukunft neu zu denken, wie sollen sie dann langfristige und aufwendige Innovationsprojekte umsetzen? 

Die Unternehmen haben die Wahl, ob sie ihre Pläne innerhalb ihrer Organisation weiterverfolgen oder mit externen Ressourcen realisieren möchten. Wir nennen diese Phase Planning. Viele Geschäftsinnovationen sind mit Investitionen in digitale Technologien verbunden, und da muss jedes Unternehmen ehrlich mit sich sein, was es selbst leisten kann und was nicht. Wer ein Projekt überstürzt beginnt, erzeugt im besten Fall zusätzliche Kosten und bringt im schlimmsten Fall Innovationen zum Scheitern.  

Diese Falle lässt sich vermeiden, indem man eine fundierte Entscheidung trifft: Partnerschaft? Selbst machen? Zukaufen? Beispielsweise geht es im Banken- und Versicherungssektor derzeit darum, Prozesse mithilfe Künstlicher Intelligenz zu automatisieren. Ein Thema, mit dem sich auch einer unserer Kunden auseinandersetzen musste. Selbst machen? Nein. Eine Akquisition tätigen? Zu teuer. Strategische Partnerschaft? Das war die Lösung – ein Joint Venture mit einem führenden Technologieunternehmen. Und gleichzeitig ist in der eigenen Organisation ein neuer Entwicklungspfad entstanden, weil man als Unternehmen in solch einer Kooperation natürlich viel lernt.  

Am Ende geht es jedoch darum, die richtige Idee auch richtig umzusetzen … 

In manchen Branchen, etwa im Maschinenbau, herrscht kein Mangel an Ideen. As-a-Service-Modelle, Plattformökonomie, Abonnements, Abrechnung nach Volumen, Stückzahl oder sonstige Leistungsdaten – die Frage ist immer: Wie wird daraus ein Business Case, wie lässt sich das rechnen? Wie übersetze ich ein tradiertes Geschäft in ein neues Geschäftsmodell? Eventuell sogar mit derselben Maschine, jedoch intelligenter und mit einem höheren Servicelevel? Das Spannende ist, dass die großen Treiber der Geschäftsmodellentwicklung bei Unternehmen in einer Branche, so unsere Erfahrung, zu zwei Dritteln identisch sind. Deswegen sind es auch selten einzelne Unternehmen, die Angriffsfläche für eine Disruption bieten, sondern meist ganze Wirtschaftszweige. 

Die Kunst ist, im restlichen Drittel – also das jeweils Spezifische in Kultur, Produktpalette, Lieferkette, Wertschöpfungsmuster und Internationalität – zu suchen, zur Marktreife zu bringen und umzusetzen. Bei der Execution solcher Geschäftsmodellinnovationen kommt es auch auf die Periodisierung und somit auf Reihenfolge und Timing an. So sollte ein Unternehmen über Analytics oder KI erst nachdenken, wenn es seine Datenstrukturen in Ordnung gebracht hat. 

Können Sie für die Leserinnen und Leser der Themenschmiede einen typischen Innovations-Case durchspielen? 

Auf unserem Tisch landete kürzlich die Frage eines Unternehmens, wie viele Mitarbeitende, welche Kompetenzen und Strukturen die Organisation in den kommenden fünf bis sieben Jahren benötigen werde. Um eine Antwort zu finden, braucht es zunächst ein gutes Verständnis des Status quo: Welche Leistungen werden erbracht? Wie viele Menschen sind daran beteiligt? Über welche Kompetenzen verfügen sie? Welche Strukturen und Führungsstile kennzeichnen die Zusammenarbeit?  Dann folgt eine Projektion auf das Leistungsspektrum und die Geschäftsmodelle in fünf Jahren plus x: Welche Fähigkeiten werden relevant sein? Wie dürfte sich der Personaleinsatz vor dem Hintergrund von Digitalisierung, Wachstum und New Work verändern?  

Je genauer die Geschäftsmodelle der Zukunft beschrieben werden können, desto zielgerichteter kann das Unternehmen die Personalentwicklung vorantreiben und sich im Wettbewerb um Fach- und Führungskräfte positionieren. 

Ein abschließender Tipp für die Leserinnen und Leser der Themenschmiede? 

Die wichtigen Fragen an ihr Geschäftsmodell liegen vielleicht so nahe, dass sie in einer Flut an Information und Analyse übersehen werden. Ich frage mich beim Besuch im Supermarkt oft, welche Angebote es in zehn Jahren vielleicht nicht mehr geben wird. Ob das Tiefkühlsegment mit Blick auf eine nachhaltige Energieerzeugung und die explodierenden Energiekosten eine Zukunft hat?  

Es gibt leider so viele Unternehmen, die Disruptionen in ihrem Markt zu spät erkannt oder falsch bewertet haben. Einer der tragischsten Fälle ist bekanntermaßen Kodak. Obwohl richtig gut in digitaler Technologie, hat die Führung an analoger Fotografie zu lange festgehalten und das Unternehmen damit ruiniert. Solche Kodak-Momente sollten nach Kräften vermieden werden.  


Die Fragen stellte Christoph Berdi von den Identitätsstiftern.