BANI statt VUCA - Artikel von Anja Failer

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BANI statt VUKA

Eine neue Perspektive auf eine chaotische Welt.

Das 21. Jahrhundert verlangt den Unternehmen einiges ab. Noch haben viele nicht ganz gelernt, mit der Dynamik der digitalen Transformation und des gesellschaftlichen Wandels umzugehen. Und schon müssen sie einem Phänomen begegnen, das in unserem Denken, in Betriebswirtschaft und Managementlehre eigentlich nicht vorgesehen ist: Chaos.

Sep 28, 2021 12:58:19 PM

Derzeit erleben wir in schnellem Takt, wie die verschiedenen Systeme, in denen wir uns bewegen, völlig unberechenbar reagieren. Nicht umsonst haben Fachbegriffe wie Disruption und Exponentialität ihren Weg in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden. Sie stehen für Paradigmenwechsel und Dynamiken, die viele Menschen und auch Organisationen überfordern. Kein Wunder, sind wir doch anthropologisch darauf programmiert, linear zu denken. In unserer Vorstellung entwickeln sich die Dinge vielleicht mit Schwankungen, aber stetig. Und wir suchen ständig nach Mustern, um unsere Umwelt zu begreifen, unsere Intuition zu schulen und aufmerksam gegenüber Gefahren zu bleiben. Der Säbelzahntiger hockt immer noch im Gebüsch, und wir versuchen mit allen Sinnen, ihn früh genug zu entdecken und unser Leben zu retten.

 

Blick in Abgründe

Das 21. Jahrhundert ist jedoch von Transformationen und Systemkrisen gekennzeichnet, in denen die Zusammenhänge kaum mehr erkennbar sind, die Wechselwirkungen verborgen bleiben und die Folgen unabsehbar erscheinen. Die Lage erscheint chaotisch. Von der Etymologie dieses ursprünglich griechischen Begriffs ausgehend, blicken wir tatsächlich in tiefe Kluften:

  • Der Klimawandel verändert die Lebensbedingungen auf dem Planeten noch schneller als befürchtet. Flutkatastrophen in der Mitte Europas, großflächige Waldbrände in Südeuropa und in den USA, Spitzentemperaturen von 50 Grad in Kanada. Das Eis der Arktis und viele Gletscher schmelzen in beängstigender Geschwindigkeit. Die Umweltsünden aus 150 Jahren Industriegeschichte rächen sich jetzt. Das Klima erweist sich als fragiles, überstrapaziertes System.

  • Die Globalisierung, eigentlich Motor wirtschaftlichen Wachstums, hat der Verbreitung eines potenziell tödlichen Virus auf dem gesamten Planeten Vorschub geleistet. Die Corona-Pandemie hat uns seit nunmehr fast zwei Jahren im Griff. Wirtschaftlich kommen die Industrienationen noch gut damit zurecht, aber die dramatischen Auswirkungen von Covid-19 auf die Entwicklungsländer, auf die Lage von ohnehin benachteiligten Frauen und Kindern, sind einfach noch nicht sichtbar geworden.

  • Die Wertesysteme geraten ins Wanken. Der selbstempfundenen Überlegenheit westlicher Demokratien schlägt zunehmende Skepsis in weiten Teilen der Welt entgegen. Auch vor dem Hintergrund des katastrophalen Versagens des Westens in Syrien und aktuell in Afghanistan stellen sich viele Staaten die Frage, ob Autokratien wie Russland und vor allem China nicht die verlässlicheren Partner sind. Während sich die EU im Kleinklein verliert und vornehmlich mit sich selbst beschäftigt ist, bringt China mit der „Seidenstraße“ ein gigantisches, multilaterales Infrastrukturprojekt auf den Weg.

  • In der digitalen Transformation werden die Spielregeln ständig neu geschrieben. Niemand weiß, woher die nächste Disruption, der nächste Digitalisierungsschub kommt. Viele Innovationen, etwa Blockchain oder Kryptowährungen, haben ihr Potenzial noch gar nicht entfaltet. Ganze Wirtschaftszweige „dematerialisieren“, rutschen von der physischen Produkt- auf die virtuelle Datenseite und organisieren sich im „Internet of everything“ neu.

Die Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz (KI) werden vielleicht Teil der Antwort auf diese kaum noch zu erfassende, systematische Komplexität sein, produzieren aber gleichzeitig neue Herausforderungen: KI lässt die Komplexität dieser Herausforderungen noch einmal sprunghaft ansteigen. Obwohl wir noch am Anfang der digitalen Transformation stehen, sind viele Entscheidungswege in einer datengetriebenen und von Algorithmen organisierten Sphäre undurchschaubar geworden.

Kürzlich fuhr ich mit einem Uber-Fahrer, der sich im Gespräch dankbar gegenüber Uber für die lukrativen Fahrten an diesem Tag zeigte. Er dankte auch Gott dafür, ihm heute etwas Gutes gegeben zu haben. Dass ihm allein Algorithmen nach einem Abgleich mehrerer Datenpunkte diese Aufträge zugewiesen haben, kam ihm zumindest in jenem Moment nicht in den Sinn. Und: Je leistungsfähiger und „intelligenter“ die digitalen Systeme werden, desto mehr drängt sich eine entscheidende Frage auf: Nach welchen ethischen Grundsätzen entscheiden sie? Wer erhält eine Leistung, einen Bonus einen Zugang und wer nicht?

 

Nicht-linear statt volatil, unverständlich statt mehrdeutig

Über Jahrzehnte haben sich die Unternehmen darin geübt, die zunehmende Komplexität ihres Umfelds durch die VUKA-Brille zu betrachten. Volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig (ambiguitär) – diese Vorstellung wurde in den späten 1980er-Jahren vom US-Militär entwickelt, als die Welt sich nach dem Ende des Kalten Krieges neu zu sortieren begann. VUKA stammt also aus einer Zeit, in der sich der Eiserne Vorhang hob, Deutschland die Wiedervereinigung feierte, die erste E-Mail versendet wurde und das Internet von einer Idee zu einem Produkt reifte. Nach und nach avancierte VUKA zu einem hilfreichen Filter, der das Verständnis einer vernetzten und sich dynamisch entwickelnden Umwelt erleichterte. Unternehmen begannen, multioptionale Szenarien und Strategien zu entwickeln, öffneten sich für Kooperationen und sogar für die Zusammenarbeit mit Wettbewerbern („Co-Competition“).

Aber charakterisiert das Akronym VUKA auch unsere Gegenwart und Zukunft noch treffend, er-öffnet es nach wie vor eine hilfreiche Perspektive auf die undurchsichtigen Zusammenhänge? Zweifel sind angebracht. VUKA stellt eigentlich keinen großen Erkenntnisgewinn mehr dar, sondern ist gelernte Realität. Die Welt ist heute eine andere und das Konzept kann dazu verleiten, in der Ausrichtung und im „Big Picture“ eines Unternehmens zu kurz zu springen.

Hier kommt ein Gedanke ins Spiel, den der US-amerikanische Zukunftsforscher Jamais Cascio unter dem Eindruck der Corona-Pandemie wie einen Stein ins Wasser geworfen hat und der seither konzentrische Kreise zieht. Der Futurist stellt VUKA ein neues Akronym entgegen und nennt es BANI: brizzle, anxious, non-linear, incomprehensible.

 

BANI statt VUCA - Artikel von Anja Failer

Untergang oder Chance? Letzteres! „Wenn wir BANI-Filter anwenden und akzeptieren, dass die Systeme brüchig, angsteinflößend, nicht-linear und unverständlich sind, ergeben sich neue Antworten und Anforderungen. Positiv betrachtet, beschreibt BANI auch eine Welt, in der vieles möglich ist und gelingen kann“, so Anja Failer, Director bei der Allfoye Managementberatung und Expertin für Agilitätskonzepte und -umsetzung in Unternehmen.

  • Cascio beschreibt die Welt als brüchig, und wer wollte ihm mit Blick auf den Bedeutungsverlust multilateraler Organisationen wie der UN und EU nicht zustimmen? Brüchig werden Systeme, wenn sie ausgehöhlt, mürbe sind und nur noch von einer fragilen Struktur zusammen-gehalten werden. Überzogenes Effizienzdenken und unzulängliche Ressourcen können dafür eine Ursache sein.

  • Zudem nimmt Cascio Angst als zentralen Treiber menschlichen Verhaltens ernst. Angst um ihr Leben treibt Menschen zu Flucht, Angst ist die tiefe Ursache vieler Verschwörungstheorien, unsäglicher Beleidigungen in den sozialen Netzwerken. Zukunftsangst bringt #FridaysForFuture auf die Straße. Unternehmen können sich ängstlich verhalten, wenn die Führung die falschen Signale sendet und Veränderung in der Kultur nicht als Chance, als positive Herausforderung, verankert ist.

  • Auch den non-linearen Charakter vieler Ereignisse nennt Cascio beim Namen. Die Klimaereignisse von heute sind im Wesentlichen die Folgen maßloser Umweltzerstörung in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Gerade deshalb muss der CO2-Ausstoß jetzt so drastisch heruntergefahren werden. Ein weiteres Beispiel: Dass die exponentielle Verbreitung eines Virus so schwer zu begreifen ist, führt zu vielen Missverständnissen und Konflikten in der Pandemie-Bekämpfung.

  • Last but not least spricht Cascio eine große Wahrheit, um die wir uns als Menschen ebenso gerne herumdrücken wie Organisationen, gelassen aus: Viele Geschehnisse bleiben schlicht unverständlich. Wir wissen, dass Wetterkatastrophen zunehmen, aber wir können Ort und Zeitpunkt noch nicht verlässlich und schnell genug prognostizieren. Der einzelne Bürger kann in seinem Alltag nicht nachvollziehen, nach welchen Gesetzmäßigkeiten Daten interpretiert, zu Datensätzen gebündelt und durch maschinell lernende Systeme verarbeitet werden. Dieses Verständnis entzieht sich den Konsumenten und auch manchen Profis, die sich professionell um die Algorithmen kümmern. Nur in Nischen – oder sollte ich sagen: von Eliten? – werden die Zusammenhänge noch durchdrungen. Das gilt auch für die sozialen Medien und die Suchmaschinen. Sie spiegeln den Nutzern nicht die Realität wider, sondern eine aus Daten und von Algorithmen errechnete Sichtweise und trüben so die Wahrnehmung. Wer ahnt schon, dass er einen Kredit nicht bekommt, weil er in der falschen Straße wohnt?

BANI: Kultur und Agilität als Antwort

Der moderne Mensch gleicht ein wenig seinen Vorfahren im ausgehenden Mittelalter. Viel ist in Bewegung, aber er weiß nicht genau, was und warum. Aber anders als damals, als es einer Elite aus Fürsten, Wissenschaftlern und Künstlern bedurfte, um die Tür zur Erkenntnis – genannt Renaissance – auf-zustoßen, verfügen wir heute über Bildung, kollektive Intelligenz und leistungsfähige Organisationen. Dem ganzen BANI-Chaos können wir als Menschen und Unternehmen etwas entgegensetzen: unsere Lernfähigkeit. Wenn wir BANI-Filter anwenden und akzeptieren, dass die Systeme brüchig, angsteinflößend, nicht-linear und unverständlich sind, ergeben sich neue Antworten und Anforderungen. Positiv betrachtet, beschreibt BANI auch eine Welt, in der vieles möglich ist und gelingen kann.

Wer sagt denn, dass nicht Ihr Unternehmen das Überraschungsmoment auf seiner Seite haben kann? Dazu muss eine Organisation eine innere Stärke und Überzeugung entwickeln, die vielfältigen Herausforderungen meistern zu können. Agile Methoden, datenbasierte Prozesse, Diversität sowie eine Kultur der Partizipation und des Vertrauens sind gefragt, damit Teams und Mitarbeiter den rasanten Wandel flexibel, schnell und intuitiv adaptieren können. In der BANI-Ära benötigen Menschen den Mut und das Zutrauen, Entscheidungen zu treffen, die nicht bis ins letzte Detail durchdacht sind. Der Weg wird mehr und mehr zum Ziel. Die Qualität einer Entscheidung misst sich zunehmend an der gemeinsamen Idee von Kundenorientierung und Wertschöpfung. Anders gesagt: Der Leitstern, der Unternehmen durch die Untiefen der BANI-Welt führt, ist ihre Haltung.

 

Redaktionelle Unterstützung: Bettina Dornberg & Christoph Berdi (die „Identitätsstifter“)

Agilität im Traditionsumfeld

AGILITÄT IM TRADITIONSUMFELD  

Erfolgreiche Unternehmen sind wandlungsfähig und stellen sich schnell auf neue Marktgegebenheiten ein. In diesem Vortrag gibt Anja Failer Ihnen wichtige Impulse für die effektive Einführung eines agilen Frameworks an die Hand. 

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