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Positive Leadership

Geschrieben von Björn Kücklich | Jul 21, 2022 2:15:35 PM

Manchen Menschen fällt es leichter, Fehler zu finden oder Negatives wahrzunehmen, als sich über etwas Gutes, Positives zu freuen. Dieses Muster hat sich im Laufe der Evolution tief verankert. Als die Menschen noch Jäger und Sammler waren, mussten sie giftige Pflanzen ebenso sicher erkennen wie Bedrohungen durch Raubtiere. Überleben konnten sie nur, indem sie für ihren rauen, feindseligen Lebensraum ein inneres Frühwarnsystem entwickelten.

In der heutigen Welt sind solche direkten Bedrohungen von Leib und Leben zwar seltener geworden, aber der Mensch ist nach wie vor auf Selbsterhaltung programmiert. Deshalb beeinflusst der sogenannte „Negativity Bias“ die Entscheidungen mancher Menschen nach wie vor. Sie neigen dazu, selbst unbedeutende negative Erfahrungen stärker zu gewichten als neutrale oder positive Erfahrungen. Der Negativity Bias ist eine kognitive Verzerrung, die das Glas immer halb leer erscheinen lässt.

Es liegt auf der Hand, dass Unternehmen ein Problem bekommen, wenn der Negativity Bias in Teams oder Abteilungen überhandnimmt und sich in Entscheidungsprozessen einschleicht. Chancen werden schlechter bewertet, als sie sind. Innovationen laufen Gefahr, zerredet zu werden. Aufbruchstimmung mag nicht aufkommen, und jeder zarte Versuch für Change Management wird im Keim erstickt. Unglücklicherweise verstärken Führungskräfte, die sich auf das Motto „Nichts gesagt ist genug gelobt“ beschränken und emotional auf Distanz zu ihren Mitarbeitern bleiben, diesen Negativeffekt zusätzlich.

Positive Psychologie als Gegenmittel

Kein Wunder, dass sich mit der Positiven Psychologie ein offenkundiges Gegenmittel gegen diese mentale Malaise wachsender Beliebtheit erfreut. Die junge Forschungsrichtung hat sich von US-amerikanischen Universitäten in den vergangenen zwei Jahrzehnten in alle Welt verbreitet. Ihre Vertreter suchen wissenschaftliche Antworten auf die Fragen, wie sich das Leben in jedwedem Bereich besser gestalten lässt und, wie im Review of General Psychology zu lesen ist, welche Faktoren eine „optimale Entwicklung von Personen, Gruppen und Organisationen ermöglichen". Mittlerweile wenden viele wissenschaftliche Arbeiten die Positive Psychologie unter dem Schlagwort „Positive Leadership“ auf die Kultur und Führung von Unternehmen an. Längst ist das Konzept in der Praxis angekommen. Eines der prominentesten Unternehmen, die auf Positive Leadership setzen, ist der Einzelhandelskonzern Lidl in Österreich.

Das generelle Ziel von Positive Leadership ist, um einen Gedanken des Organisations- und Wirtschaftspsychologen Dr. Markus Ebner aufzugreifen, die Wirkfaktoren der Positiven Psychologie – etwa Hoffnung, Interesse, Freude, Mitgefühl, Stolz, Vergnügen und Dankbarkeit – in den Mitarbeitenden zu erhöhen und deren Stärken aufblühen zu lassen.

Dahinter liegt die Erkenntnis, dass Mitarbeiter ihre Fähigkeiten vorwiegend dann entfalten können, wenn ihr Arbeitsalltag von Wertschätzung, Vertrauen und Empathie bestimmt wird – ein Effekt, der sich beispielsweise mithilfe des sogenannten PERMA-Modells erzielen lässt. PERMA geht auf einen der Väter und größten Befürworter der Positiven Psychologie in den USA, Professor Martin Seligman, zurück und steht als Akronym für die fünf Faktoren, die persönliches Wachstum und individuelle Zufriedenheit fördern. Demnach sind Führungskräfte aufgerufen:

  • Positive Emotionen und Erlebnisse der Mitarbeiter zu fördern,
  • individuelle Stärken zu aktivieren (im Sinne der Bedeutung von „Engagement“ im Englischen: Verpflichtung, Versprechen),
  • tragfähige Beziehungen zu entwickeln (Relationships),
  • Sinn zu vermitteln (Meaning) und
  • Erreichtes sichtbar zu machen (Accomplishments)

Das PERMA-Modell spiegelt somit jenes Mindset wider, das im Kontext von Kulturentwicklung, New Work und digitaler Transformation als wegweisend gilt.

Entscheidend für gelingendes Positive Leadership ist, dass Führungskräfte jede alibihafte, aus Pflichtgefühl resultierende Empathie vermeiden und stattdessen eine überzeugende „Positivity Ratio“ anstreben. Nur dann fühlen sich die Menschen wohl.

Der US-amerikanische Psychologe John Gottman kommt in seinen Forschungen über die Stabilität von Ehen und Beziehungen zu dem Ergebnis, dass die positiven verbalen wie nonverbalen Interaktionen die negativen im Verhältnis 5:1 übertreffen sollten. Die Arbeiten der Psychologin Barbara L. Fredrickson zeigen ein ähnliches Resultat. Danach sollen positive Gefühlserlebnisse mindestens mit dem Faktor drei überwiegen.

Fredrickson hat zudem nachgewiesen, dass positive Emotionen einen „Undoing-Effect“ auslösen und damit Stressreaktionen quasi löschen. Langfristig stimulieren sie nach dem Prinzip „broaden and built“ darüber hinaus die mentalen und kognitiven Ressourcen der Menschen. Zunächst erweitern positive Gefühlserlebnisse die Fähigkeit, Reize aus der Umwelt wahrzunehmen („broaden“). Dies führt zu höherer geistiger Beweglichkeit, Kreativität und Kompetenz im Umgang mit Problemen. Darauf aufbauend gelingt es vielen Menschen, ihre Beziehungen zu verbessern, ihre Selbstwirksamkeit zu erhöhen und ihre Resilienz zu stärken („built“).

 



„Entscheidend für gelingendes Positive Leadership ist, dass Führungskräfte jede alibihafte, aus Pflichtgefühl resultierende Empathie vermeiden und stattdessen eine überzeugende „Positivity Ratio“ anstreben. Nur dann fühlen sich die Menschen wohl.”, sagt Björn Kücklich.

Weniger Fehler, mehr Kreativität

Ein wichtiger Aspekt des Positive Leadership ist die Fehler- und Toleranzkultur. Mitarbeiter und Teammitglieder sollten offen über Fehler und Schwächen sprechen sowie unbequeme Meinungen äußern können, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Eine solche Atmosphäre steigert erwiesenermaßen die Zufriedenheit am Arbeitsplatz und die Performance der Mitarbeiter. Das zeigt die Forschung von Amy Edmondson, Professorin für Leadership and Management an der Harvard Business School und Expertin für psychologische Sicherheit. Edmondson hat in Krankenhäusern untersucht, wie offen Teams mit Fehlern – falsch dosierte Medikamente, übersehene Anzeichen einer Krankheit – umgehen und wie viele Fehler tatsächlich passieren. Das Ergebnis: Teams, in denen frei über Fehler gesprochen wird, machen objektiv viel weniger Fehler als Teams, in denen Fehler seltener angesprochen oder tabuisiert werden.

Wissenschaftlich belegt ist zudem, dass positiv gestimmte Menschen Probleme besonders leicht und schnell lösen, kreativ sind, sich hohe Ziele stecken, beharrlich bleiben und bessere Ergebnisse erzielen. Beispielsweise hat die Psychologieprofessorin Alice M. Isen (1942 – 2012) Versuchspersonen in eine positive Stimmung versetzt, indem sie ihnen Filmausschnitte aus Komödien zeigte. Dann erhielten sie eine Kerze, eine Schachtel mit Reißzwecken und Streichhölzer. Ihre Aufgabe in diesem Experiment war, die Kerze derart an einer Korkwand zu befestigen, dass nach dem Anzünden kein Wachs auf den Boden tropft. 75 Prozent der Teilnehmer, die die Filmclips gesehen hatte, lösten diese Aufgabe innerhalb von zehn Minuten. In der Gruppe mit einem neutralen Film lösten 20 Prozent die Aufgabe. Wurde kein Film gezeigt, kamen nur 13 Prozent der Teilnehmer auf die Lösung. Der Clou ist übrigens, die Schachtel der Reißzwecken als Halterung zu benutzen und die Kerze darin zu platzieren.

Positive Leadership verlangt Führungskräfteentwicklung

Positive Leadership lässt sich nicht auf Knopfdruck implementieren. Viele Führungskräfte werden nicht umhinkommen, ihre bisherige Haltung und Prinzipien zu reflektieren und bewusst zu verändern. Das Verhältnis von Führungskräften und Mitarbeitern ist – statistisch betrachtet – weder spannungsfrei noch von Positive Leadership geprägt. Im Gegenteil: Wenn man die Einschätzungen beider Gruppen gegenüberstellt, fragt man sich unwillkürlich, ob sie auf demselben Planeten zu Hause sind.

In einer Gallup-Studie schätzen sich selbst sage und schreibe 97 Prozent der Führungskräfte als „gut“ ein. Hingegen präsentiert der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Zahlen, wonach sich jeder zweite Mitarbeiter fürchtet, Probleme gegenüber seinen Vorgesetzten oder der Geschäftsleitung anzusprechen. Jeder dritte Mitarbeitende erfährt von seinen Vorgesetzten nur geringe oder keine Wertschätzung.

Angesichts dieser Diskrepanz ist es angesagt, dass Unternehmen der Führungskräfteentwicklung im Sinne des Positive Leadership Impulse geben. Dabei gilt es zu verstehen, wie unterschiedlich stark das Bedürfnis nach Wertschätzung bei Führungskräften und Mitarbeitern ausgeprägt ist. Die Erklärung dafür liefern die 16 Grundmotive – beispielsweise Macht, Unabhängigkeit, Neugier oder Ruhe –, die der US-amerikanische Psychologe Steven Reiss identifiziert hat. Wer übereinstimmend mit seinen Motiven lebt und arbeitet, erfreut sich in der Regel einer mentalen Leichtigkeit und lädt seine inneren Batterien wieder auf. Wer gegen seine Grundmotive arbeitet, fühlt sich müde, gestresst und überfordert.

Eines der Grundmotive nach Reiss ist das Bedürfnis nach Anerkennung. Nun finden sich unter den Führungskräften auffallend viele Menschen mit einem niedrigen Anerkennungsbedürfnis. Sie agieren selbstsicher, fordern Kritik aktiv ein und bevorzugen eine direkte Kommunikation. In klassischen Unternehmensstrukturen gelten diese Eigenschaften als wichtige Voraussetzungen für eine Leitungsposition. Menschen mit einem hohen Anerkennungsbedürfnis hingegen benötigen positive Bestätigung von außen wie die Luft zum Atmen. Sie reagieren auf Kritik eher sensibel, sind aber gleichzeitig sehr empathisch. Keine Frage, wenn diese beiden Bedürfnisstrukturen aufeinanderprallen, ist Ärger vorprogrammiert.

Die Aufgabe der Unternehmen ist es, die per se negativ gepolten Fehlerfinder und Schwächenbetoner unter den Führungskräften zu befähigen, ihre tradierten Denkmuster und Vorstellungen zu durchbrechen und positiv auf die Mitarbeiter zuzugehen. Ohne entsprechende Trainings, Coachings oder Mentorenprogramme wird dies kaum gelingen.

Führungskräfte benötigen ein präzises Verständnis des Konzepts sowie ihrer eigenen Handlungsmaximen und Glaubenssätze. Nur in der richtigen Dosis dämpft Positive Leadership den Negativity Bias und führt zu einer konstruktiven Kultur des Miteinanders. Es geht eben nicht darum, Defizite einfach auszublenden oder Schwächen kleinzureden, sondern diese über eine stärkenorientierte Entwicklung der Mitarbeiter und Teams auszugleichen. Aus unserer Erfahrung mit Positive Leadership können wir berichten: Der Gewinn ist immens. Mitarbeiter in einem positiven, animierenden Umfeld entwickeln Freude an der Innovation und streben in der Mehrzahl nach Exzellenz. Wer hingegen in einem Klima des Negativity Bias ausschließlich an seinen Schwächen herumdoktert, verschwindet schnell im Dunst des Durchschnitts. Test

Glückliche Mitarbeiter, glückliche Kunden

Positive Leadership bedeutet für die Unternehmen weniger Fluktuation und mehr Kreativität – und eine messbar höhere Kundenzufriedenheit. IBM berichtet von einer besonderen Positivitätsarithmetik: Danach steigern Mitarbeiter, die mit Freude arbeiten gehen, die Zufriedenheit der Kunden. Und nur fünf Prozent mehr Kundenzufriedenheit bewirken ein Umsatzplus von 20 Prozent. Das Manager Magazin hat für das entsprechende Interview eine Überschrift gefunden, die den betriebswirtschaftlichen Effekt des Positive Leadership auf den Punkt bringt: „Glückliche Mitarbeiter, glückliche Kunden.“
Mit Positive Leadership ist das Glas wieder halb voll. Mindestens.

Redaktionelle Unterstützung: Bettina Dornberg & Christoph Berdi (die „Identitätsstifter“)